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Reisen

Teasertext

Reisende Frauen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts waren rar gesät. Im Monatsthema Juli begeben sich zwei unserer i.d.a.-Einrichtungen auf die Spuren dieser Pionierinnen.

Text

Der Sommer ist da, die Ferne ruft – auch wenn das Reisen in Zeiten von Massentourismus und Klimakrise den Ruch des Abenteuerlichen und Unbeschwerten verloren hat.

Reisen ist ein Phänomen der Moderne und trotz vermeintlicher Demokratisierung in den Industriegesellschaften der Nachkriegszeit ist diese spezifische Art des Unterwegsseins immer durchsetzt von den (feinen) Unterschieden, die unsere Gesellschaften auch sonst strukturieren – seien dies Klassen-, race- und Geschlechterdifferenzen oder auch eingeschränkte Mobilität. Aus dieser Sicht hatten Reiseaktivitäten von Frauen im 19. und frühen 20. Jahrhundert etwas Transgressives – sie brachen aus der ihnen zugewiesenen Sphäre aus, eroberten sich neue Räume und Lebensweisen – konnten sich in der Ferne emanzipative Spielräume erschließen. Reisende Frauen – gerade in der Pionierinnenphase – faszinierten und waren Vorbild und Inspiration. 

In unserem Monatsthema Juli stellen unsere beiden i.d.a.-Einrichtungen, das Louise Otto Peters Archiv und das AddF - Archiv der deutschen Frauenbewegung, Materialien aus ihren Sammlungen vor, die Einblick in die Reisen dreier Frauen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts geben: Louise Otto-Peters, Anna Pappritz und Freda Wuesthoff.

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Quelle
AddF – Archiv der deutschen Frauenbewegung

Titelblatt: Journalistische Reisebriefe I. Thüringen 1845. Von Louise Otto-Peters. AddF, Kassel, Sign.: NL-K-08 ; 2-1/1

Louise-Otto-Peters -Archiv

(Louise Otto-Peters: Journalistische Reisebriefe I., Thüringen 1845. Zu finden im Archiv der deutschen Frauenbewegung in Kassel, unter der Signatur NL-K-08 ; 2-1/1. Die Transkriptionen des Autographen sind im Louise-Otto-Peters-Archiv in Leipzig vorhanden, mit Vorwort und vielen Erläuterungen.)

Im Archiv der Louise-Otto-Peters-Gesellschaft e.V. in Leipzig finden sich zahlreiche Autographen (in Kopie) und Transkriptionen von Reiseberichten von Louise Otto-Peters, u. a. „Journalistische Reisebriefe Thüringen 1845“ sowie „Journalistische Reisebriefe Schlesien 1846“.

Louise Otto-Peters berichtet:

„Ostern 1843 war mein erster Roman erschienen, Vehse u. Brendel sagten mir sehr Ermuthigendes … beklagten nur daß ich einen kleinen Horizont habe – müsse mehr Welt und Menschen kennen lernen – reisen u. s. w.“/Selbsterlebtes S. 145/

Sie arbeitete und lebte damals in Meißen, kannte Dresden, Leipzig, Naumburg, Freiberg, Öderan, das heimische Sachsen. 1845 „wagte“ sie ihre erste größere Reise: nach Thüringen.

„Der Cultur-Klemm also, der um meine Cultur freundlich besorgt war, hatte mir vorgeschrieben: Jena, Weimar, Erfurt, Gotha, Reinhardsbrunn, Liebenstein, Wartburg, Eisenach, Cassel, Minden, Weserfahrt bis zur Porta Westfalica, Hannover, Braunschweig, Magdeburg, Leipzig.“ /„Frauenleben im Deutschen Reich …“ S. 115/

1846 reiste sie nach Schlesien.

Beide Reisebriefen geben faszinierende Eindrücke über Reisen einer Mittzwanzigjährigen.
Es sind nicht nur Beschreibungen von Orten, sondern Erzählungen über Land und Leute, von Ereignissen, die das Leben der Menschen der Regionen formten, sei es der Bau der Eisenbahn, sei es die Industrie, die handwerkliche Existenzen vernichtete, seien es Missernten, seien es Religionskämpfe, sei es der Widerstand gegen fürstliche Anmaßung.
Viele Zollgrenzen waren zu passieren, Deutschland war ein Flickwerk aus Grafschaften, Fürstentümern, Königreichen, freien Städten. Es ist beeindruckend, wie zu Fragen der Nationalität, zur Organisation der Arbeit, die eine Teilhabe der Arbeitenden an den von ihnen erarbeiteten Gütern verwirklichen sollte, zu Fragen der Rechtlosigkeit von Frauen Gedanken und Beispiele „eingebaut“ werden.

Louise Otto-Peters ist später noch weit gereist. Tagebuchnotizen dazu finden sich z. B. aus den Jahren bis 1865 für die Länder am Rhein, für das Fichtelgebirge, für das Erzgebirge. Es lohnt sich, nach all diesen Reisenotizen und -berichten im LOPA und im AddF zu forschen.

Käte Rosenberger, LOPA

AddF - Archiv der deutschen Frauenbewegung - 1

Eine indische Reise

Alles begann mit einer interessanten Notiz im Tagebuch von Anna Pappritz. Sie notierte darin unter dem 4. November 1912: „Am 2. Nov. abends fuhr ich nach Triest. Am 4. Nov. stach d. Schiff in See. Vom 2. Nov. 1912 – 24 Feb. 1913 dauerte meine Indische Reise!“ Pappritz reiste damals nicht allein, ihre Arbeitsgefährtin Katharina Scheven aus Dresden war mit dabei, diese war es wohl auch, die diese Reise plante und Pappritz fragte, ob sie sie begleiten würde. Wie bei Frauenrechtlerinnen so üblich, wurde diese Reise nicht nur zum Vergnügen oder zu Bildungszwecken unternommen. Immer mit gedacht wurde das gemeinsame Anliegen – in diesem Falle war es die Agitation gegen die Reglementierung der Prostitution. Dies wird aus einem Artikel in der Zeitschrift „Der Abolitionist“ deutlich, der am 1. April 1913 erschien, also knapp zwei Monate nach dem Ende der Reise. Unter der Überschrift „Soziale Bestrebungen in Bombay“ berichtete Scheven von ihren Versuchen, sich ein Bild von der Lage der indischen Frauen zu machen, ein Unternehmen was misslang, denn „es war mir … nur in sehr beschränktem Umfang möglich, mir durch eigne Anschauung ein Bild von diesen Verhältnissen zu machen.[1] Dieser Artikel und kleine Randbemerkungen waren bis ins Jahr 2019 alles, was wir über diese ausgewöhnliche Reise wussten. Dann aber fand die Historikerin Bianca Walther in einem Karton im Keller des Bundesarchivs das indische Reisetagebuch von Anna Pappritz im Nachlass von Marie-Elisabeth Lüders und brachte es im Jahr später kommentiert heraus.[2] Hierin ist detailliert die Route und das Selbstverständnis der reisenden Rittergutstochter nachzulesen. Logistische Informationen zu Verkehrsverbindungen, Hotels und Postverkehr können hier ebenso nachgelesen werden wie „Reflexionen und Projektionen einer wohlhabenden Berlinerin“.[3] Aber das Reisetagebuch verrät noch mehr, denn durch das Reiseziel Indien wird auch die koloniale Vormachtstellung europäischer Menschen deutlich, die es auch europäischen Frauen ermöglichte, in diese Länder zu reisen. Wenn also eine noch Lesestoff für ihre nächste Reise braucht – ich empfehle das indische Reisetagebuch von Anna Pappritz.

Bildunterschrift
Anna Pappritz: Indisches Tagebuch. Eine Frauenrechtlerin reist nach Ceylon, Indien und Kairo. Herausgegeben und mit einer Einführung versehen von Bianca Walther, St. Ingbert 2020.

Anmerkungen:

[1] Katharina Scheven: Soziale Bestrebungen in Bombay, in: Der Abolitionist, 1.4.1913, 12. Jg., Nr. 4, S. 34-35. 

[2]Anna Pappritz: Indisches Tagebuch. Eine Frauenrechtlerin reist nach Ceylon, Indien und Kairo. Herausgegeben und mit einer Einführung versehen von Bianca Walther, St. Ingbert 2020.

Bildunterschrift
Privataufnahmen von Freda und Franz Wuesthoff; Bestand AddF: Kassel, Sign. SP-48 ; 4, Rechte vorbehalten; Filmstill Freda Wuesthoff an Board

 

Bildunterschrift
Privataufnahmen von Freda und Franz Wuesthoff; Bestand AddF: Kassel, Sign. SP-48 ; 4, Rechte vorbehalten; Filmstill Freda Wuesthoff liest Zeitung

 

Bildunterschrift
Privataufnahmen von Freda und Franz Wuesthoff; Bestand AddF: Kassel, Sign. SP-48 ; 4, Rechte vorbehalten; Filmstill Freda Wuesthoff beim Spiel an Board

AddF - Archiv der deutschen Frauenbewegung - 2

Eine frische Meeresbrise im Gesicht, Zeitung und Akten studierend in der Sonne auf dem Deck sitzend, ein kleines Spiel am Rande, interessiert das Schiff betrachtend. So blickt uns eine junge Frau Anfang 30 in modischer Kleidung der ausgehenden 1920er Jahre aus einem schwarzweiß-Film entgegen. Es ist keine Schauspielerin und dies kein Spielfilm, sondern die Physikerin und erste deutsche Patentanwältin Freda Wuesthoff (1896-1956), geb. Hoffmann, aufgenommen von ihrem Ehemann. Franz und Freda Wuesthoff betrieben in Berlin eine erfolgreiche Patentanwaltskanzlei und reisten beruflich um die halbe Welt. Im September 1929 fuhren sie von Bremen aus nach New York und blieben einen Monat lang in den USA. Mit der „S. S. Bremen“ traten sie die Rückreise zunächst nach Southampton an, welches sie am 10. Oktober 1929 erreichten. Diese Schiffsreise wird durch die privaten Filmaufnahmen von Franz Wuesthoff dokumentiert. Sie sind eines der wenigen heute noch erhaltenen Zeitdokumente aus dem Nachlass von Freda Wuesthoff und gelangten im Jahr 2020 aus Familienbesitz in das AddF. Verbinden wir heute mit Schiffsreisen eher Massentourismus und Umweltverschmutzung, waren sie Ende der 1920er Jahre die einzige Möglichkeit, den Atlantik zu überqueren, da Linienflüge auf diese Route erst 10 Jahre später eingeführt wurden. Für Passagier:innen der ersten Klasse, zu denen auch die Wuesthoffs gehörten, war die Reise mit der „Bremen“, einem der modernsten Schnelldampfer seiner Zeit, ein Luxuserlebnis. 

Auf Grund ihrer jüdischen Familienherkunft erhielt Freda Wuesthoff im Nationalsozialismus Berufsverbot, konnte aber inoffiziell in der Kanzlei ihres Mannes weiterarbeiten und ihre Karriere nach Kriegsende fortsetzen. Bis 1950 blieb sie die einzige deutsche Patentanwältin. Sie engagierte sich zudem als Physikerin gegen die Nutzung von Atomkraft, war Mitbegründerin der Frauenfriedensbewegung und des Deutschen Frauenrings. Freda Wuesthoff verstarb 1956 im Alter von nur 60 Jahren an den Folgen eines Unfalls.

 

Literatur:

Hubert Olbrich, Engagiert für eine Politik des Friedens. Die Physikerin Freda Wuesthoff (1896-1956), in: Edition Luisenstadt, Berlinische Monatsschrift, Nr. 4, 2001, S. 66-70, online verfügbar via: https://berlingeschichte.de/bms/bmstxt01/0104porb.htm [17.04.2024].

Sibylle Duda, Freda Wuesthoff, in: FemBio, Frauen-Biographieforschung e. V., https://www.fembio.org/biographie.php/frau/biographie/freda-wuesthoff/ [17.04.2024].

Ingrid Schmidt-Harzbach, Freda Wuesthoff - Vorkämpferin gegen atomare Aufrüstung. Versuch eines Porträts, in: Anna-Elisabeth Freier u. Annette Kuhn (Hg.), Frauen in der Geschichte V, Düsseldorf 1984, S. 410-444.

Günther Berthold, Freda Wuesthoff. Eine Faszination, Freiburg 1982.

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